Sangria für die Armen!
Mr.Rip

Verfall ist etwas Normales. Materie verliert nach einer Weile ihren Bestand. Sie hat das Bestreben, in einen anderen Zustand überzugehen. So lehren es uns die Naturwissenschaften, bei denen wir uns mit Potenzialen, natürlichem Bestreben und anderen, für den Normalsterblichen unwichtigen Dingen befassen. Die virtuelle Welt, die Welt der Daten, ist davor keineswegs geschützt. Sie ist zwar nicht unbedingt ein Opfer von Oxidationsmitteln, sie ist ein Opfer des Menschen, des Sex-Appeals. Warum sind wohl so viele Betriebssysteme, so viele Rechner und Programme vom Markt verschwunden? Klar, sie waren (fast) alle ein Opfer des Fortschritts. Fortschritt muss aber nicht immer bedeuten, dass es wesentlich oder überhaupt besser ist, als das, was man davor hatte. Ein Beispiel aus der Realität:

Nicht jede Lohnerhöhung ist auch eine. Brutto bekommt man mehr, rutscht in eine andere Steuerklasse und netto schaut es schon anders aus.

Trotzdem freuen sich die einen oder anderen über die Lohnerhöhung, auch wenn dieser "Fortschritt" eigentlich ein Schritt nach hinten war. Mit der Technik ist es ebenso. Nicht jeder neue Computertyp in der Vergangenheit war besser als die anderen, aber sie haben sich dank cleverer Vermarktung und oft dummen und kaufsüchtigen Amerikanern einfach besser verkauft, bis sie zum "Standard" gehörten.

Schauen wir uns die Demoszene an, dann sehen wir an allen Ecken und Enden den Verfall. Eigentlich ist die gesamte Szene ein Herbst-Frühling Gemisch. Überall findet Zerfall statt und überall blüht es auch. Immer wenn man glaubt, ein Bereich in der Szene wäre tot, kommt wieder jemand und releast (nicht immer, aber oft genug) etwas Geniales auf diesem Gebiet. Diesen Prozess kann man bei der Amiga- und C64er-Szene genauso gut beobachten wie in der deutschen Diskmagszene. Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht mindestens ein deutsches Mag die Flügel streckt und auch kaum ein Jahr, in dem nicht ein neues Mag gegründet wird. Wie auch in der Natur stellt sich mit der Zeit ein Gleichgewicht ein und über dieses Gleichgewicht entscheidet, wie so oft, am Computer der User selber. Das Problem allerdings ist nicht nur die Konkurrenz, sondern die Ansprüche, die an die Szene gestellt werden, und die Ansprüche, die sich die Szene selber stellt.

Analysieren wir das mal bei den Diskmags. Der Benutzer stellt an ein Menü schon recht viele Ansprüche, da er durch die HTML-Kultur schon ziemlich verwöhnt wurde. Die Texte müssen ebenfalls einen gewissen "Standard" haben. Anspruchsvoll, humorvoll und leicht verdaulich sollten sie ebenfalls sein. Ein Diskmag ohne Musik darf sich erst gar nicht blicken lassen und zu guter Letzt muss das Teil noch vollbepackt sein mit sinnlosem Schnickschnack, den kein Mensch braucht (Soundeffekte beim Klicken, scrollender Hintergrund, ...). Das alles soll natürlich noch so klein wie möglich gepackt sein, damit man das Mag noch neben dem Quake 3 zocken downloaden kann.

Das nächste Problem ist, dass man bei dem ganzen Surfen auf den XXX- und RTL-Seiten doch keine Zeit mehr hat, überhaupt ein Mag zu lesen. Wie viele Leser schaffen es überhaupt, diesen Text bis zu dieser Stelle zu lesen? Ich denke, es sind sehr wenige. Lesen ist ohnehin out, fast so out wie Schreiben. Das ist auch schon der nächste Grund, warum das Gleichgewicht zwischen Leben und Tot der deutschen Diskmags eher zu "tot" rutscht. Warum wohl wollen die Leute lieber kleine Mags machen? Ich glaube nicht, dass ein Mag wie Tap.Mag bei einer Fülle von 2 MB Texten lieber sagt: "Ach ne, lass mal gut sein, wir machen lieber ein 120kb Mag." Was In ist sind Bilder, vor allem bewegte. Diese kommen aber auch nur dann gut an, wenn sie etwas nie Gesehenes zeigen. Mich wundert es dann nur, warum es so viele Pornos gibt, es ist doch eh immer der selbe Mist.

Der Verfall der Daten bedeutet auch immer den Verfall von einer gewissen Kultur, mag sie noch so klein sein. Das "kulturelle Erbe" ist dann ein Haufen von "sinnlosen" Daten, die auf modernen Computern nicht mehr laufen werden. Nehmen wir an, ein Diskmag wie WildMag würde von Heute auf Morgen sterben. Wie viele Windowsupdates würde es überleben? Bei Tap habe ich doch schon das Problem, dass die Mucke bei den älteren Ausgaben schon nicht richtig rüber kommt. Bei Hugi ist es doch das gleiche Spiel. Die alten Ausgaben kann doch kaum noch jemand lesen und wer ist schon bereit, sich fünf oder noch mehr Computer ins Haus zu holen, damit auch alles geht? Kaum jemand.

Den Verfall kann man natürlich auch verlangsamen, indem man seine Projekte pflegt. Wie auch eine Pflanze, so muss man seine Programme immer wieder der Umgebung anpassen. Auch wenn man die alten Hugi Ausgaben vielleicht nicht mehr lesen kann, so kann man es mit den neuen machen und das Konzept von WildMag verspricht in dieser Hinsicht noch etwas mehr. Hier scheint es so, als könnte man die Ausgaben noch ziemlich lange lesen, wenn man die Engine an die neuen Windowsversionen anpasst. Allerdings fragt man sich, wer das dann lesen soll? Wer macht sich in 5 Jahren die Mühe und liest noch die Erstausgabe eines Diskmags, das es schon lange nicht mehr gibt? Wer will da noch wissen, was damals in der Szene und in der Welt los war? Eigentlich kein Schwein. Für was dann den Aufwand?

Die Antwort findet man bei sich selber. In 5 Jahren kann man noch mehr oder weniger Stolz zurückblicken und vielleicht sogar erkennen, dass man wenigstens einmal in seinem sinnlosen und beschissenen Leben etwas geleistet hat, und wenn es nur einige Artikel waren, die wenige Menschen gelesen haben. Man hat wenigstens jemanden zum Nachdenken gebracht. Vielleicht hat der eine oder andere über den einen oder anderen Satz auch gelacht. Wenn man dann etwas später auch noch seine missratenen Kinder sieht, kann man diese dann heranziehen und sagen, dass man selber zwar auch viel Scheiß im Kopf hatte, aber man wenigstens einen Teil von sich selber verwirklicht hat.

Mr.Rip